Der Schmetterlingsmann
Ein Portrait des Designers und Visionärs Thierry Kazazian
von Gabriela Jaskulla

Sie sagen, er sei ein Hybride gewesen, ein Grenzgänger, ein Visionär. Einer, der aber, je mehr man sich mit ihm beschäftigt, auch selbst durchlässig scheint. Ein Mensch wie aus einer feinen Membran. Die letzten Jahre benutzte er am liebsten hauchdünnes Pergamentpapier für seine Entwürfe. „Die letzten Jahre“! Sie kamen zu früh. Thierry Kazazian war Designer, Architekt, Autor – und ein Mann, begabt zur Freundschaft. Er starb 2006, mit 44 Jahren, in Paris an Leukämie. Leukämie macht, dass der Sauerstoff im Blut fehlt. Der Mensch erstickt inwendig. Dabei war genau das Kazazians Thema: Luft, Leichtigkeit, sein Hauptwerk trägt den Titel „Il y aura l’âge des choses légères“ – etwa: „Es kommt die Zeit der leichten Dinge“.

Das Buch erschien im Jahr 2003. Ein Buch wie ein Vermächtnis, berstend von revolutionären Ideen, Entwürfen, Skizzen, Tabellen, Interviews, Prognosen für bessere, dauerhafte Produkte. Kazazian zeichnet auf dem Cover bescheiden mit „sous la direction de …“, dabei war er alles auf einmal: Anstifter, und Autor, Herausgeber und Fundraiser. Er begeisterte und überzeugte – aber er war eben kein Egoist, kein „Alphatier“, wie man Rücksichtslose beschönigend nennt.

Obwohl der einzige Sohn einer wohlhabenden Familie griechisch-armenischer Herkunft – kein Muttersöhnchen. Obwohl talentiert und früh gefördert – kein Snob. Glamour interessierte ihn nicht, er besaß eine selbstverständliche, natürliche Anmut. Kazazians Vater schneiderte Pret-á-Porter. Die bildschöne Mutter war eine begabte Designerin. Sie hatten alles: Herkunft, Eleganz, Wohlstand – und Bildung. Der Sohn, gerade zwanzig, zögerte, die väterliche Firma zu übernehmen. Das Zaudernde gehörte zu seinem Wesen – als Privileg einer wohlhabenden Klasse war es ihm sicher nicht bewusst.

Die Mutter hätte dem sensiblen Sohn den Wehrdienst gern erspart und sorgte mit ihren Beziehungen immerhin für einen gänzlich ungefährlichen Posten: Für ein paar Monate wurde Thierry Wärter im französischen Marinemuseums in Paris, im Palais de Chaillot, gleich gegenüber dem Eiffeltutm. Stundenlang betrachtete er Schiffsmodelle, Sextanten, Uniformen und Gallionsfiguren. Ausgerechnet dort entdeckte er den Designer in sich – wenn man so will, aus dem Ennui heraus. Gleichzeitig entwickelte er eine Neigung, Dinge zu bewahren. Als er sich entschied, Design zu studieren, verwarf er als erstes die elterliche Neigung zu Opulenz und Luxus. Auf selbstverständliche Weise ging es Kazazian von Anfang an darum, „leichte“ Dinge zu entwerfen, solche, die man benutzen, aber nicht unbedingt besitzen will; Kazazian entdeckte die Nachhaltigkeit, lange, bevor der Begriff in Mode kam.

Sein erster Entwurf war ein Blindenstock, einer, mit dem man die Dinge jedoch nicht berühren musste. Über Ultraschall wurde ein akustisches Signal ausgelöst, wenn sich Gegenstände bedrohlich näherten. Kazazian liebte das Diskrete, das nur Hingetuschte, die leise Annäherung. Etwas Kindliches war an ihm, er liebte das Spiel um des Spiels willen, so hielt er es auch mit der Musik: Mozart, nicht Bruckner, Miles Davis, nicht Gerry Mulligan. Und ausgerechnet seine zarte, fast verträumte Art sollte an der Akademie für Design in Mailand, an der er schließlich aufgenommen wurde, für reichlich Konfliktstoff sorgen! Bei aller Sanftmut, so berichten Freunde, konnte Kazazian unerbittlich sein, wenn er etwas als richtig erkannt hatte. Und „richtig“, das war für den Studenten eben nicht das zynische Credo der Postmoderne, das „anything goes“ der 90er mit ihrer immensen Verschwendung von Ressourcen, ihrer Neigung zu Glasfasern und Verbundstoffen. Kazazian widmete sich einer anderen Ästhetik, dem „Éco-Chic“.

Trotzdem war Kazazian ein Städter, ein Bewohner der Metropolen, und so muss man sich seine erste Begegnung mit der alpenländischen Natur als Schock vorstellen. In Mailand hatte er österreichische Kommilitonen kennen gelernt. Gemeinsam hatten sie an ihren Ideen von nachhaltigem Design gearbeitet, hatten mit der saturierten Professorenschaft gestritten, hatten ein Netzwerk geknüpft, das sie „O2“ nannten. Die Freunde, allen voran Jörg Doll, Jörg Scheicher und Thomas Ikrath, zeigten ihm die heimatlichen Landschaften. Sie fuhren Ski, schwammen im Sommer in den Bergseen, besuchten die Familien. Aus dem erfindungsreichen, moralischen Tüftler Thierry Kazazian wurde ein Liebhaber der Natur, einer der die Erde als junges Mädchen zeichnete, nicht als robuste „Mutter Erde“. Er wusste ja, sagte er mitunter lachend, dass auch „seine“ Erde vier Millionen Jahre alt war, aber er zeichnete sie fragil und fraulich wie eine Figur von Gustav Klimt.

Die Zeichnungen liegen, wie die Tagebücher und Sketchbooks, im Haus von Marianne Gelaudie in Haarlem, in der Nähe von Amsterdam. Gleich drei Mal brachte Kazazian das Leben der Holländerin ins Wanken: Zum ersten Mal, als sie sich, beide um die zwanzig, kennen- und lieben lernten. Dann, als sie sich, nach einem frühen Bruch der Beziehung, siebzehn Jahre später wiederfanden. Und zum dritten Mal, als sie die Nachricht von seiner tödlichen Krankheit traf. Da hatten sie es gerade geschafft, nach Jahren des Pendelns ein gemeinsames Zuhause zu schaffen: Thierry und Marianne, dazu ihre Tochter und Julius, der gemeinsame Sohn, gerade ein Jahr alt. Eine Woche bewohnten sie das neue Haus in der Nähe von Paris, dann kam die Diagnose. Thierry Kazazian hatte noch ein Jahr zu leben, er arbeitete bis zum Schluss. Und hörte dabei Mozart, „fast nur noch Mozart“, wie Marianne Gelaudie erzählt, „und ganz am Ende Die Zauberflöte.“ Marianne Gelaudie erinnert sich an die Musik, die sie gemeinsam hörten, an die Musik, zu der sie tanzten. Es ist von diskreter Stimmigkeit, dass Kazazian und seine verspielten, dabei jedoch tiefernsten Gedanken zu einer Art Oper inspirieren sollten, einem Singspiel jedenfalls.

Marianne Gelaudie sieht dem jungen, uralten „Mädchen Erde“, das Kazazian gezeichnet hat, ähnlich. Sie zeigt die Notizbücher, die Tagebücher, die Icons, mit denen er seine Notizen markierte, um sie schnell wiederzufinden und die am Beginn jedes Büchleins aufgelistet sind:  Ein kleiner Stuhl für „Mobiliar“, eine Glühbirne für „Beleuchtung“, ein Zettel für „Zitate“ – und irgendwo, immer ziemlich weit unten auf dem Index, ein lächelndes Profil: „moi“, schrieb Kazazian dazu – wie alles, was ihn persönlich betraf, ganz klein.

„Das Mädchen Erde“ ist Teil eines Bilderbuchs. Es trägt den Titel „Die Erde rettet die Welt“. Kazazian zeichnete es unter dem Sauerstoffzelt, im Krankenhaus, den nahen Tod schon vor Augen. Er zeichnete es in erster Linie für Julius, den Sohn. Auf den Zeichnungen verbünden sich die Tiere, um die Menschen von der Zerstörung der Welt abzuhalten. Es sind bekannte Tiere dabei, aber auch Fabelwesen und solche, die aus Wortwitz und Phantasie bestehen wie die „Eiffel-Giraffe“, eine „Carbonivora“, also eine Pflanze, die Kohle verzehrt und nicht Fleisch, der Hai, der einen chicen Öko-Pullover trägt. Auffallend: ein halb durchschimmerndes Wesen, im leuchtenden Blau von Yves Klein aquarelliert. Er nennt ihn den „papillon ouragon“, den „Sturmesschmetterling“, aber eigentlich ist er ein „l’homme papillon“, ein Schmetterlingsmann. Er wurde zu einer Leitfigur von Thierry Kazazian: Ein Mann mit weit geöffneten Augen und einladend ausgebreiteten Armen. Er kann fliegen, aber er hebt nicht ab, er träumt, aber sein Blick bleibt offen für die Welt. Ein Zwitterwesen, durchlässig und verletzlich. Eher Tamino als Parsifal, eher ein kleiner Prinz als ein heiliger Sebastian, ein Mozart- und ein Märchenwesen.

Diesen Schmetterlingsmann stellte Kazazian als literarische Figur auch ins Zentrum seines letzten Buches, von dem nur wenige Skizzen und Notizen erhalten sind, auf transparentem Papier. Der Designer und Visionär wollte nach dem „Design légère“ ein Plädoyer für eine „Économie légère“ schreiben, ein Kompendium, das dazu anhält, die Ressourcen der Welt zu nutzen, aber nicht zu verbrauchen, über die Dinge wie das Leben zu verfügen, um sie weiterzugeben, wenn es nötig ist. Das Leben wie die Dinge – flüchtig, transitorisch, aber gerade deshalb liebens- und beschützendwert. Aus dem Designer Kazazian wäre wohl ein philosophischer Autor geworden, hätte ihm das Leben nur die Zeit gelassen.

Die Zeit! Die Menschen, die Thierry Kazazian kannten, haben sein viel zu frühes Sterben bis heute nicht verschmerzt. Sichtbar sind seine Ideen lediglich in seinen wenigen realisierten Entwürfen. Weitergegeben, weiterentwickelt werden sie eher diskret im Netzwerk „O2“, das  Avantgarde-Designer bis heute verbindet. Seine „Anstiftungsgabe“ aber wird nun zu Musik – Musik, die nach der existentiellen Zerrissenheit Robert Schumanns mit gegenwärtigem Mitteln greift. Kazazian fand die Verbindung von Gegensätzen immer im Spielerischen, im „Leichten“, und dem entspricht der Zugang der Musikbanda „Franui“. Dass die Musiker gleichzeitig für Österreich, für die Alpen stehen, ist ein weiterer Verweis auf Kazazian und seine Liebe zu dieser Landschaft – zart und diskret, wie es seiner Natur entsprochen hätte.

Kazazian selbst scheint charismatisch und doch flüchtig, wie der Schmetterlingsmann. Es wird gern kolportiert, der berühmte „Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien“ könne „einen Tornado in Texas“ auslösen. Auch Kazazian zitiert diesen Glauben, der freilich nicht mehr ist als ein sympathisches Gerücht. Allerdings: Einen „Schmetterlingseffekt“ kennt die Wissenschaft durchaus. Wenn die Bedingungen am Anfang eines dynamischen Systems verändert werden, so sagt der „butterfly effect“, reagiert dieses System in der Folge höchst empfindlich. Und genau das war Kazazians Metier, das Metier des „Schmetterlingsmanns“: Er bewegte behutsam, seine Ideen waren leise, aber er ließ in seinem stillen Bemühen nicht nach, weil er um unser aller Empfindlichkeit wusste, um die Empfindlichkeit des „Systems Erde“. Kazazian rührte mit seinen Ideen und Schriften daran, wie mit Schmetterlingsflügeln. Aber sein Ziel war riesig. Kazazian, der „l’homme papillon“, er wollte, dass wir uns auf die Seite der schönen Erde schlagen. Er entfachte keinen Sturm, aber er traute den Menschen zu, sich zu ändern.